Buchtipps - Rezensionen
Mit Demenz gut leben - aber wie?
Der vergessliche Riese
Der Bademeister ohne Himmel (Lesung am 21.5.2025, 12.30 Uhr in unserem Stützpunkt)

Gerne stellen wir Ihnen hier drei empfehlenswerte Bücher mit Rezension vor.
Mit Demenz gut leben - aber wie? von Irene Leu, Basel
Irene Leu, Pionierin beim Aufbau einer Demenzstation in Basel, heute Dozentin und Coach für Pflegestationen, die sich auf personenbezogene Betreuung ausrichten möchten, erzählt aus dem Alltag in der Pflege Demenzerkrankter, der Betreuung von Angehörigen und der Begleitung von Fachpersonen. Sie zeigt, wie oft mit Wenigem viel getan werden kann, und hinterfragt gängige Herangehensweisen und Konzepte. Sie erläutert, wies es möglich ist, zu einem Verständnis zu gelangen, das die Person mit ihren Bedürfnissen, Wünschen und Werten in den Mittelpunkt der Betreuung stellt.
Wunderbar: Kein neues Lehrbuch! Irene Leu hat eher ein Lese- und Lernbuch geschaffen, das achtsam des Lebens Buntheit abbildet, Aha-Erlebnisse schafft und unmittelbare Veränderungsmöglichkeiten im Umgang mit Menschen mit Demenz eröffnet. Und: Sie vertritt eine lebenserfahrene Haltung, die nicht bei «Was Du nicht willst, dass man Dir tu, das füg auch keinem anderen zu» endet, sondern Pflegende und Betreuende darüber hinaus dazu animiert, die uns innewohnenden Sensorien aktiv einzusetzen, Naheliegendes zumindest zu versuchen und den Menschen vor die Demenz zu stellen. Und nicht umgekehrt.
Irene Leu war im September 2020 auf unsere Einladung als Referentin im Haus Gutenberg zu Gast. Zudem hat sie im Herbst 2023 das Team des Tagestreff Vergissmeinnicht vor dessen Eröffnung gecoacht und wertvolle Hinweise gegeben.
Mit Demenz gut leben – aber wie? Perspektiven für Betroffene und Pflegende
Zytglogge Verlag, 2019, Rezension von Matthias Brüstle, 2020
Der vergessliche Riese, von David Wagner
Eine Familie erlebt einen Rollentausch: Der Vater, zweifach verwitwet, ist wieder Kind geworden. Er braucht Betreuung und wird sein Haus verlassenmüssen, denn er vergisst, was gerade eben noch gewesen ist. Immer wieder erzählt er seine Liebesgeschichten, und manchmal phantasiert er.
Nach dem Bestseller "Leben", ausgezeichnet mit dem Preis der Leipziger Buchmesse, schafft David Wagner etwas, das sehr kostbar ist: Er zeigt einen Menschen, der – obwohl er nur noch in der Gegenwart lebt und allmählich verschwindet – unverwechselbar bleibt mit all seinen liebenswerten Eigenheiten und den Erinnerungen, die er noch hat. Die Zärtlichkeit, die der Erzähler ihm bei seinen Besuchen und auf zahlreichen Autofahrten zu Orten der Vergangenheit entgegenbringt – "hier haben wir gewohnt, Papa, hier hast du gearbeitet, hier bist du aufgewachsen" –, berührt tief, auch die Geduld, der Humor, das Ausbleiben von Hadern und Wut. Ganz leise, fast unmerklich, schreitet die Demenz voran, doch sie verläuft hier ohne Schrecken. Der alte Galan [...] ist glücklich, obwohl er weiss, was mit ihm ist (aus dem Klappentext).
Ich befasse mich hauptberuflich mit Demenz. Für mich ist dieses Buch jedoch auch deswegen lesenswert, weil es auf fast 270 Seiten eigentlich die Geschichte einer Beziehung ist, und zwar einer besonders tragfähigen. Und zumindest mir kam dabei nicht nur einmal der Gedanke oder die Frage, was denn das «Rezept» sei für eine derartige warme Zwischenmenschlichkeit, wie sie von den beiden Protagonisten gelebt wird.
Man könnte zunächst die wirtschaftlichen Verhältnisse der wohlhabenden Familie aus dem Bildungsbürgertum als eine Ursache annehmen, warum die «Not» in der beschriebenen Lage vielleicht nicht grösser ist; aber es ist wahrscheinlich – oder sogar sicher – viel subtiler. Wer phantasiebegabt und zwischen den Zeilen liest, dem/der wird der Rollentausch allenfalls psychologisch bedingt deswegen so gelungen erscheinen, weil Jahrzehnte früher vieles richtig gemacht wurde. Der Vater (als Repräsentant seiner Generation) war damals der «Erzähler» der Geschichte, der geduldige Erklärer, der Normen, Perspektive und Sicherheit gab. Trotz des dem jeweiligen Lebenskontext immer noch innewohnenden Risikos, dass alles auch anders ausgehen kann, als in Aussicht gestellt. Und die Kinder, konkret der Sohn, durften damals zuversichtlich sein, waren orientiert, geschätzt, geliebt, und durften teilhaben am geduldigen Mit-Getragen-Sein. Trotz des Ablebens der Mutter zur Unzeit, trotz anderer familiärer Turbulenzen. Und jetzt darf und kann der Vater stets zuversichtlich sein ...
Dem Buch wohnt der Geist gelungener Bindung inne, die widrige Umstände zu überdauern und bei Bedarf – wie beschrieben – auch einen Rollentausch zu ertragen imstande ist. Jetzt führt der Sohn, und der Vater kann zuversichtlich die Welt – teils täglich neu – erleben.
So gesehen hat das Buch auch mit Demenz zu tun und zeigt, wie man damit mit ein bisschen Glück umgehen kann. Vor allem aber hat es mit dem richtigen Umgang von Menschen miteinander zu tun. Und das ist doch sehr erfreulich. Und lehrreich noch dazu!
Rowohlt, 2019; Rezension von Matthias Brüstle, 5.5.2020
Der Bademeister ohne Himmel, von Petra Pellini
In ihrem Roman „Der Bademeister ohne Himmel" gelingt Petra Pellini ein fröhlicher Roman über ein ernstes Thema.
Der Bademeister toastet Karotten und wartet auf seine tote Frau
Linda ist fünfzehn und würde am liebsten vor ein Auto laufen. Doch noch halten zwei Menschen sie davon ab: ihr einziger Freund Kevin, der daran verzweifelt, dass die Welt am Abgrund steht. Und Hubert, sechsundachtzig Jahre alt, ein Bademeister im Ruhestand, der seine Wohnung kaum mehr verlässt, Karotten toastet und auf seine Frau wartet, die vor sieben Jahren verstorben ist.
Diese sympathische Heldin vergisst man nicht so schnell
Mit Linda hat sich Petra Pellini für ihren Roman „Der Bademeister ohne Himmel“ eine unglaublich sympathische Heldin ausgedacht, deren Perspektive auf die Welt und deren schnoddrige Art, sich auszudrücken, man kaum widerstehen kann. Allein, wie sie kurz und knapp ihre Situation zusammengefasst: „Es gibt zwei Menschen, die mich von der Sache mit dem Auto abhalten. Kevin und Hubert. Kevin wohnt um die Ecke, ist voll intelligent, und Hubert wohnt im dritten Stock und ist voll dement.“
Petra Pellini schildert den Alltag als zwischenmenschliches Abenteuer
Dreimal wöchentlich verbringt Linda den Nachmittag mit Hubert, um die polnische Pflegerin Ewa zu entlasten, die mit durchaus eigenwilligen Mitteln ihren Beruf ausübt. Der Alltag gelingt mal mehr, meist weniger. Es ist niemals Routine und fast immer ein großes zwischenmenschliches Abenteuer.
„Der Bademeister ohne Himmel“ ist ein intelligenter und feinsinniger Roman
Mit einem für einen Teenager beachtlichen Feingefühl und intelligentem Humor begegnet Linda Huberts fortschreitender Demenz und versucht, die Erinnerungen des alten Bademeisters wachzuhalten – an die Sommer im Strandbad oder die Liebe zu seiner Frau Rosalie. Bis das Schicksal Lindas Pläne durchkreuzt.
Die Autorin erzählt vom Thema Demenz auf lebensbejahende Weise
„Der Bademeister ohne Himmel“ erzählt eine zutiefst lebensbejahende Geschichte, die sich ernsten Themen widmet und dabei wunderbar leicht daherkommt. Kein Wunder, dass sie für ihr kleines Meisterwerk bereits einen Literaturpreis bekommen hat.
Der Bademeister ohne Himmel, Rowohlt, 2024; Rezension von Simone Lilienthal im Juli 2024 (geboren und aufgewachsen in München, studierte Simone Lilienthal, Jahrgang 1984, in Frankfurt Deutsch und Französisch aufs Lehramt. Nach dem Referendariat entschloss sie sich aber für die Freiheit und ein Leben als Autorin. Simone Lilienthal schreibt für verschiedene Magazine und arbeitet im Café)